Restoring Basic Goodness
COVID-19 fordert unser Zusammensein auf eine Art heraus, die wir uns zuvor kaum hätten ausmalen können. Die Einen genießen die Möglichkeit zu Rückzug und Kontemplation oder ein Arbeiten im Home-Office ohne Fahrzeiten im Stau. Andere erleben ein herausforderndes Zusammensein in häuslicher Enge, in der Heimarbeit und Schulunterricht ausbalanciert werden wollen. Soziale Kontakte im Außen können nicht in unbeschwerter körperlicher Präsenz gepflegt werden. Händeschütteln und Umarmungen bleiben unter Wahrung von Abstandsregeln nur angedeutet. Eine ohnehin schon berührungs-unterversorgte Gesellschaft erlebt zusätzliche Abgrenzung und Isolation.
Doch wie so oft in Krisenzeiten zeigen sich auch Lichtschweife am Horizont. Die Pandemie wirkt wie eine Lupe und schärft den Blick fürs Wesentliche. Was ist wirklich wichtig? Für mich, meine Familie, mein soziales Umfeld, die größere Gemeinschaft? Wo kann Quantität und schnelles Konsumieren in mehr Qualität und Genuss verwandeln werden? Wo entsteht durch einfache achtsame Handlungen mehr Lebensqualität für mich und mein Umfeld? Oft intensivieren sich die Beziehungen zu den wenigen möglichen Kontakten. Gespräche entwickeln mehr Tiefe und Authentizität. Und so mancher Geburtstag wird auch online zu einem kreativen Erlebnis von Gemeinsamkeit. Not macht erfinderisch.
Es entstehen neue Kreise von Solidarität und Nachbarschaftshilfe. In Vergessenheit geratene Familienmitglieder sind auf einmal wieder ganz nah. Wir erleben die unterstützende Wirkung des Zusammenrückens und Austausches. Einkaufen für die Nachbarn, Enkelkinder betreuen und generelle Rücksichtnahme stehen hoch im Kurs. In der Not steht man zusammen.
Doch wie so oft, wenn Menschen zusammenrücken, entsteht auch Raum für neue Ausgrenzungen in "Wir" und "Die". Wo bisher Gemeinsames im Vordergrund stand, tritt nun auch Trennendes zutage. Polarisierende Ansichten tun sich auf und der Kampf um Deutungshoheit wird in den sozialen Medien ausgetragen. Es entstehen neue Lager und gesellschaftliche Spaltungen, die sich nicht selten sogar durch den Freundes- und Familienkreis ziehen.
Diese zunehmende Polarisierung nehmen wir als ein gesellschaftliches Auseinanderdriften wahr. Die Fronten verhärten sich. Trumpist oder Establishment. Pandemie oder Plandemie. Brexitier oder glühender Europäer. Ein Dialog zwischen den Polen scheint kaum noch möglich. Von den vier Ebenen der Kommunikation* (1. bestätigend, 2. sachlich, 3. empathisch, 4. generativ) bleiben wir oft in Ebene 2 stecken und die Entwicklung eines generativen Dialogs scheint nahezu unmöglich.
Woran liegt es, das Dialog im Kontext der Polarisierung nicht mehr möglich ist?
Oft sind es starke Emotionen, die ein empathisches Einnehmen der jeweils anderen Perspektive verhindern. Sobald die Lager aufeinandertreffen wird die Verteidigung der eigenen Sichtweise überlebenswichtig und mit Vehemenz betrieben. Die Parteien stehen sich kopfschüttelnd und unverstanden gegenüber. Weitere Konflikte werden dadurch vermieden, das sich die Pole abspalten, so dass der oft anstrengende Dialog in Unterschiedlichkeit nicht stattfinden muss. So manche Beziehung zerbricht oder wird auf eine harte Probe gestellt.
Wie erlösend wäre es da, wenn Wissenschaft objektive und verlässliche Beurteilungen aussprechen könnte, die in einheitliche Sicht- und Handlungsweisen münden. Doch die Pandemie führt uns vor Augen, das Wissenschaft noch Unbekanntes nur schrittweise, mit Irrtümern behaftet, erobern kann. Und selbst vormals Gesichertes kommt ins Wanken oder wird nicht mehr gesehen. Wir kommen nicht umhin mit Unsicherheit und Eventualitäten zu leben und diese auszuhalten. Das fordert uns individuell, aber besonders auch auf kollektiver Ebene heraus. Es gibt zeitgleich mehrere subjektive Wahrheiten, die jeweils verteidigt werden wollen. Die Fronten verhärten sich. Zuhören und in die Schuhe des anderen zu treten, fällt zunehmend schwerer. Wie kann in dieser Situation Verbindung und Integration stattfinden? Wie wird das Gemeinsame, unsere Basic Human Goodness in der Unterschiedlichkeit der Ansichten erfahrbar? Existiert diese überhaupt?
Wenn ich tiefer über diesen Zustand nachdenke und ihn mit dem 3-Körper-Verständnis des Social Presencing Theater* verbinde, entsteht in mir immer wieder das Bild der Teilung von Körperzellen (Mitose). Aus einer Mutterzelle gehen genetisch identische Tochterzellen hervor. Diese Zellteilung dient der Realisierung verschiedener Lebensfunktionen und ist Voraussetzung für das Wachstum von Organismen. Im Moment der Spaltung ist das Ergebnis des Wachstumsprozesses noch nicht unmittelbar erkennbar. Und doch folgt alles einem bereits angelegten inneren Bauplan, dessen Vollkommenheit und Schönheit sich erst viel später zeigt.
Dieses scheinbar spontane Entstehen und Wachsen ist etwas, was wir im Sozialen Körper (z.B. bei der Praxis der SPT Übung "Village") immer wieder beobachten können. Es bilden sich Formen, in denen Personen in Bezug zueinander treten und sich verbinden. Und gleichzeitig entsteht eine Abgrenzung, ein Drinnen- und Draußen-Sein. Im achtsamen Raum der SPT Praxis beobachten wir, wie wir uns auf sich entstehende Formen einlassen, diese mitgestalten und auch wie wir uns wieder daraus lösen, wenn die Zeit dazu gekommen ist. Wir üben unsere oft kopfgesteuerte, urteilende Ernsthaftigkeit zugunsten spielerischer Neugier zurückzustellen und uns dem Fluss der Dinge zuzuwenden. In Unterschiedlichkeit zu sein, ohne den anderen ändern zu wollen. Wir erleben, welche erfüllende Kreativität aus unserer Diversität entsteht und erfahren uns als Teil eines größeren Ganzen.
Ein achtsam spielerischer Weg zur Integration.
"Es dürfte uns gut tun, uns manchmal daran zu erinnern, dass wir zwar in dem Wenigen, was wir wissen, recht verschieden sein mögen, dass wir aber in unserem grenzenlosen Unwissen alle gleich sind."
Zitat des Philosophen Karl Popper